SMA

ATMP am Beispiel der spinalen Muskelatrophie (SMA)

Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine schwere und lebenslimitierende neurodegenerative Erkrankung. Ohne Behandlung führt sie zum vorzeitigen Versterben der Patienten in Abhängigkeit vom Schweregrad der Erkrankung. Leitsymptomen der SMA sind eine zunehmende Muskelschwäche und Muskelatrophie mit Verlust der Muskeleigenreflexe. Hinzu können viele Begleitsymptome kommen wie orthopädische Komplikationen (Skoliose, Kontrakturen), Ernährungsstörungen und die Notwendigkeit einer künstlichen Ernährung und Beatmung sowie palliativmedizinischer Begleitung. Letzthin lebenslimitierend ist dabei eine zunehmende respiratorische Insuffizienz mit Notwendigkeit der non-invasiven Beatmung. Die geistige und sprachliche Entwicklung der Kinder ist vollständig intakt.

Die SMA tritt klinisch in unterschiedlichen Schweregraden auf und wird in drei unterschiedliche Formen eingeteilt (Typ I-III). Der klinische Verlauf der spinalen Muskelatrophie stellt in der Praxis jedoch eher ein Kontinuum mit breiter phänotypischer Variabilität dar.

  1. Die SMA Typ I (sog. Werdnig-Hoffmann-Erkrankung) ist die schwerste und mit einer relativen Häufigkeit von 60% an der Gesamtinzidenz häufigste Verlaufsform. Die Symptome beginnen bereits im Neugeborenenalter bzw. spätestens im Verlauf der ersten 6 Lebensmonate. Die betroffenen Kinder erlernen per Definition nicht den motorischen Meilenstein des freien Sitzens. 50% der Patienten mit klassischer SMA Typ I versterben ohne non-invasive Beatmung bzw. Therapie innerhalb der ersten 12 Lebensmonate, 90% versterben innerhalb der ersten beiden Lebensjahre ohne krankheitsmodifizierende Therapie.
  2. Bei der SMA Typ II (Intermediärform) treten erste klinische Symptome der Erkrankung innerhalb der ersten 7-18 Lebensmonate auf. Die Ausprägung unterliegt dabei einer erheblichen Spannbreite. Die betroffenen Patienten können ohne Hilfe frei sitzen, mildere Verlaufsformen erlernen das freie Stehen mit Hilfsmitteln. Freies Laufen ist aber niemals möglich. Die Lebenserwartung konnte durch den Einsatz der non-invasiven Beatmungsmethoden bis ins Erwachsenenalter verlängert werden.
  3. Bei der SMA Typ III (Kugelberg-Welander-Erkrankung) zeigen die Patienten große Unterschiede bezüglich des Alters der Krankheitsmanifestation und des klinischen Verlaufs. Alle wesentlichen motorischen Meilensteine inklusive des freien Laufens werden primär erreicht. Einige Patienten werden im späten Kindesalter bereits rollstuhlpflichtig und verlieren das freie Laufen, andere führen ein annähernd normales Leben mit diskreter Schwäche bis ins Erwachsenenalter. Bei Manifestation in der 2.- 3. Lebensdekade wird diese Variante häufig auch als Typ IV bezeichnet. Die Lebenserwartung ist insbesondere bei später Manifestation nur unwesentlich eingeschränkt.

Mit den jüngsten Fortschritten in der genetischen Forschung und der Einführung neuer Behandlungen ist ein verfeinerter Behandlungsansatz verfügbar geworden. Besonders wichtig sind Erkenntnisse zum SMN2-Gen, das als Krankheitsmodifikator wirkt. Eine höhere Anzahl von SMN2-Genkopien (in der Regel 2 Kopien) vermittelt einen milderen Krankheitsverlauf.

 Aufgrund dieser genetischen Erkenntnisse ist die Klassifikation der spinalen Muskelatrophie (SMA) detaillierter geworden und berücksichtigt Faktoren wie:

  1. SMN2-Kopienzahl: Eine höhere Anzahl von SMN2-Kopien ist mit einer milderen Form der Krankheit assoziiert.
  2. Frühe Diagnose und Behandlung: Neue Klassifikationen unterscheiden zunehmend zwischen prä-symptomatischen und symptomatischen PatientInnen, da dies einen erheblichen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat.
  3. Subtypen basierend auf genetischen Mutationen: Einige Subtypen der SMA werden jetzt spezifischer benannt, wie z.B. SMA Typ 0, die als besonders schwere und früh einsetzende Form beschrieben wird.

In Deutschland wird bei etwa 1 von 6.000 bis 10.000 Neugeborenen SMA diagnostiziert, und etwa einer von 45 Menschen ist Träger der Erkrankung. Es wird geschätzt, dass etwa 1.000 bis 1.500 Personen in Deutschland mit der Krankheit leben.

Fortschritte in der Behandlung der SMA

Bis 2016 war keine effektive Behandlung für SMA verfügbar, was sie zur häufigsten genetischen Todesursache bei Säuglingen und kleinen Kindern machte. In den letzten Jahren wurden jedoch bedeutende Fortschritte erzielt, insbesondere mit krankheitsmodifizierenden Therapien:

  • Nusinersen (Spinraza®): Im Mai 2017 in Europa zugelassen, hilft dieses Medikament, die motorischen Funktionen zu verbessern, wenn es früh im Krankheitsverlauf verabreicht wird. Es kann das Überleben und die motorischen Fähigkeiten erheblich verbessern, wenn die Behandlung vor dem Auftreten von Symptomen beginnt, und bietet eine nahezu normale motorische Entwicklung bei Säuglingen, die unmittelbar nach der Geburt behandelt werden. Es wird intrathekal (in die Rückenmarksflüssigkeit) durch eine Lumbalpunktion verabreicht. Nusinersen ist ein Antisense-Oligonukleotid-Hemmer, der das SMN2-Gen anvisiert, das die Produktion eines funktionalen SMN-Proteins vermittelt; es ist kein ATMP.
  • Risdiplam (Evrysdi®): Im März 2021 wurde dies die erste orale Behandlung für SMA, die zugelassen wurde. Dieses Medikament wird täglich zu Hause eingenommen und erfordert keinen Krankenhausaufenthalt, was eine bequeme Behandlungsoption bietet. Risdiplam ist ein kleines Molekül, das das Spleißen von SMN2-mRNA modifiziert und die Produktion von funktionalem Überlebensmotorneuron (SMN)-Protein erhöht; es ist kein ATMP.
  • Gentherapie (Onasemnogene Abeparvovec – Zolgensma®): Im Mai 2020 genehmigte Europa die erste Gentherapie für SMA. Diese einmalig verabreichte ATMP bietet das Potenzial für eine Heilung. Der Zeitpunkt der Verabreichung spielt eine entscheidende Rolle für den Behandlungserfolg und ist am effektivsten, wenn sie vor einer signifikanten Krankheitsprogression gegeben wird. Sie verwendet einen adeno-assoziierten Virusvektor (AAV9), um ein funktionales SMN1-Gen direkt in die motorischen Neuronen zu liefern und damit die zugrunde liegende Ursache der SMA anzugehen.